Historiker: Geschichte lehrt differenzierten Umgang mit Bedrohungen
Salzburg, 09.08.2025 (SHW) Ein Blick in die Geschichte - und hier speziell in die Regional- und Sozialgeschichte - kann zu einem differenzierteren Umgang mit den Krisen der Gegenwart führen. Das hat der Tübinger Historiker Prof. Ewald Frie bei einem Vortrag im Rahmen der "Salzburger Hochschulwochen" am Samstag an der Universität Salzburg betont. Aus der Dynamik sozialer gemeinschaftlicher Beziehungen in kleinen dörflichen Gemeinschaften, die Frie am Beispiel der Gemeinde Nottuln im Münsterland im 19. und 20. Jahrhundert nachzeichnete, lasse sich für heute lernen, dass Bedrohungsszenarien immer dort entstehen, wo sich Alltagsroutinen verändern und eine Gemeinschaft unter Zeit- und Handlungsdruck kommt. "Bedrohungen sind emotionsgetränkte Bewertungen einer Zukunft, die ganz nah an die Gegenwart herangerückt wird."
Darin wurzle auch hohe Emotionalität der Debatten in kollektiv empfundenen Bedrohungsszenarien wie etwa der Klimakrise oder der Corona-Pandemie. Zugleich lehre der Blick in die Geschichte, dass die heutigen gesellschaftlichen und sozialen Sicherheitsstandards weitaus höher sind als in den großen Hungerkrisen, Kriegs- und Revolutionsjahren des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, führte Frie aus. Das bedeute nicht, heutige Bedrohungsszenarien zu relativieren - der historische Blick lehre vielmehr, dass es das Empfinden von Bedrohungen von Gesellschaft zu Gesellschaft variiere, dass zwischen empfundener und realer Bedrohung oft ein Graben klafft - und dass Bedrohungsszenarien Zyklen und Halbwertszeiten haben und auch wieder verschwinden können. Dass die Gegenwart heute als so bedrohlich empfunden wird, habe daher vor allem damit zu tun, dass die modernen Kommunikationsformen - anders als in früheren Jahrhunderten - diese Bedrohungen alle gleichzeitig präsent halten.
Frie wählte als Anschauungsobjekt die Regionalgeschichte Nottulns als Beispiel für eine ländliche, bäuerlich geprägte Gemeinschaft, die im 19. Jahrhundert Kriegen und Hungerkrisen ausgesetzt war, wo aber durch das soziale Leben - dazu zählte der sonntägliche Gottesdienstbesuch ebenso wie ein reges Gaststättengewerbe und Feste - ein stabile "Face-to-Face-Gemeinschaft" bestand. Dies führte zu dörflicher Stabilität ohne revolutionäres Potenzial und ohne ein "Entflammen kollektiver Emotionen", so Frie. Revolutionen und Hungerkrisen sowie politischer Wandel führten schließlich auch in solchen ländlichen Gemeinschaften zu ganz eigenen Bewältigungsstrategien des als Bedrohung empfundenen Wandels - und letztlich zu einem je neuen Selbstverständnis. Insofern würden kollektiv empfundene Bedrohungen immer auch "Möglichkeitsräume" öffnen, so Frie abschließend.
Ewald Frie, Tine Stein und SHW-Obmann Martin Dürnberger
Text & Fotos: Dr. Henning Klingen